Warum „Information und Aufklärung“ im Kampf gegen Genitalverstümmelung nicht zum Ziel führt – und wie sich der Westen damit zum Komplizen macht

TERRE DES FEMMES überlässt 5-Jährige der Genitalverstümmelung in Guinea
14. Juli 2011
„Das Thema hat die Köpfe der Teilnehmer der Fachveranstaltung eindeutig erreicht.“ Bernd Carstensen
24. August 2011

Seit Jahrzehnten propagieren und finanzieren Nichtregierungsorganisationen, Aktivisten und Politiker die Strategie der „Information und Aufklärung“ als Maßnahme, um die Gewalt der Genitalverstümmelung zu beenden:

Indem Bevölkerung und Regierung in den Verstümmelungsländern – aber auch Migranten hier in Europa – über die schädlichen Folgen der Genitalverstümmelung „informiert und aufgeklärt“ werden, sollen sie davon überzeugt werden, künftig ihre Töchter unversehrt aufwachsen zu lassen.

Diese Strategie hat einen Haken:

Sie funktioniert nicht. Sie kann nicht funktionieren – denn sie basiert auf der irrigen, falschen Annahme, dass diejenigen, die ihre Töchter verstümmeln lassen aus Unwissenheit oder mangelnder Bildung handeln.

Es wird ein fatales, verzerrtes Bild vermittelt, das den Tätern „Unschuld aufgrund fehlender Bildung bzw. Kenntnis“ unterstellt und ihnen die Verantwortung für das Verbrechen gegen die eigenen Kinder abspricht. Gleichzeitig wird mit diesem „Aufklärungs-Ansatz“ das Wesen von Genitalverstümmelungen als systematische Gewalt mit dem Ziel der Unterdrückung und Kontrolle der weiblichen Mitglieder der Gesellschaft verschleiert und negiert.

Wir können heute mit empirischen Fakten und Daten belegen, dass diejenigen, die Genitalverstümmelungen verüben, keineswegs ungebildet und unwissend sind:

Die gebildeten Eliten mit den höchsten sozialen Standards verstümmeln ihre Töchter im gleichen oder sogar größeren Ausmaß wie Vertreter der untersten und ärmsten sozialen Schichten der Gesellschaft.

Einige Beispiele:

Im Sudan bleibt nach 70 Jahren „Aufklärungs- und Informationskampagnen“ die Verstümmelungsrate konstant bei 89%: In den Familien mit der höchsten Bildung werden 3% mehr Mädchen verstümmelt als in den ungebildeten. In der reichsten Schicht der Gesellschaft werden sogar 20% mehr (!) Mädchen Opfer der Verstümmelung als in der ärmsten Unterschicht.

In Äthiopien ist die Verstümmelungsrate in den Städten einschließlich Addis Abeba 20% höher als auf dem Land. In hochgebildeten Familien werden 80% der Mädchen verstümmelt und somit nur 2% weniger als in völlig ungebildeten.

In Ägypten besteht so gut wie kein Unterschied: Fast jedes Mädchen (92%) in den hochgebildeten Familien wird genital verstümmlt. Und 75% der Verstümmelungen werden von gebildeten Medizinern verübt (vor allem Krankenschwestern), die sich aus persönlichen monetären Interessen für die Weiterführung der Verstümmelungen einsetzen.

In Indonesien werden die meisten der in dem Land gravierendsten Formen von Genitalverstümmelung (Klitorisexzision) im urbanen und gebildeten Umfeld (z.B. Padang) verübt. Die Verstümmelungsrate beträgt dort 100%, mehr als 50% der Mädchen wird die Klitoris herausgeschnitten. Es besteht zudem ein direkter Zusammenhang zwischen der Modernisierung und Medikalisierung von Genitalverstümmelung und dem Anstieg der schweren Form der Verstümmelung (Exzision).

In Europa werden die Verstümmelungen quasi unvermindert weitergeführt – bis zu 80% der Mädchen (insbesondere in den Hochrisikogruppen) werden „vor unserer Haustür“ verstümmelt, obwohl die Täter angeben, über die Strafbarkeit der Tat und die gesundheitlichen Folgen informiert zu sein.

Die Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen ist so zwingend wie einfach: Genitalverstümmelung muss endlich als das benannt und behandelt werden, was es ist: Ein Verbrechen – ein Akt der Gewalt, Herabwürdigung und der Respektlosigkeit gegenüber den eigenen Kindern, dessen Täter keine Opfer (von Unwissenheit, Armut o.ä.) sind, sondern eben voll verantwortliche Täter.

Sie handeln keineswegs aufgrund mangelnder Bildung oder fehlender Erkenntnis, sondern begehen diese Taten – wie alle Gewalttäter – um ihre eigenen ideologischen, persönlichen und materiellen Interessen gegen die der Opfer durchzusetzen – in vollem Bewusstsein der Folgen.

Die Weltöffentlichkeit muss endlich aufhören, der Verstümmelungsgewalt einen Kultur-Rabatt einzuräumen und stattdessen beginnen, Genitalverstümmelung und die Täter ohne wenn und aber zu kriminalisieren und zu ächten, z.B. durch die Umsetzung effektiver Möglichkeiten der Strafverfolgung insbesondere der anstiftenden Familien sowie Sanktionen gegen jene Entscheider, die nicht bereit sind, die Beendigung der Verstümmelungen in ihren Gemeinden/Communities durchzusetzen. Nicht zu vergessen sämtliche muslimischen Kleriker (z.B. Shafi’iten), die bislang ohne den empörten Aufschrei der Öffentlichkeit zur Verübung dieser Verbrechen anstiften.

Es wird höchste Zeit, die exotistisch-rassistische Doppelmoral der westlichen Organisationen und Politiker zu entlarven und zu überwinden, mit der sie die Verstümmelungstäter unterschätzen und entmündigen und der Welt suggerieren, die Täter wüssten gar nicht, welches Leid sie ihren Kindern mit der Verstümmelung antun:

Denn zum einen werden durch diese Darstellung die Vetreter der Verstümmelungs-Kulturen als rückständige, unwissende aber eigentlich gutmeinende Minderbemittelte dargestellt, jeglicher Verantwortung für ihre bestialischen Verbrechen enthoben.

Gleichzeitig machen sich Politiker und NGOs die irrsinnigen Rechtfertigungen der Verstümmelungen zu eigen, um die Tat und die Täter (denen „beste Absichten“ zugesprochen werden) – und vor allem ihre resultierende Nicht-Intervention – zu entschuldigen: Auf diese Weise führt das rassistische Konzept der „rückständigen, unwissenden Anderen“ zur Komplizität mit den Tätern – mit dem Ergebnis, eben jene „rückständigen“ Strukturen zu festigen und nachhaltige Entwicklung zu verhindern.

Die westliche (Innen- und Entwicklungs-) Politik, die ausschließlich auf „Aufklärung und Information“ setzt, macht schlichtweg „die falsche Baustelle auf“ und kurbelt auf diese Weise die Gewaltmechanismen weiter an. Sie richtet sich maßgeblich gegen die (potentiellen), akut gefährdeten Opfer, denen konsequenter Schutz, grundlegendste Rechte und Gerechtigkeit verweigert werden.

Foto (c) Flickr/IRIN News

32 Comments

  1. […] hinwegtäuschen können noch darüber, dass diese “Bemühungen” aufgrund ihres verfehlten Ansatzes scheitern – weshalb auch jegliche valide Wirksamkeitsnachweise fehlen – und jeden Tag […]

  2. […] hat allein in Äthiopien mehr als 360.000 € an Steuergeldern (über das BMZ) für weitgehend wirkungslose “Aufklärungs-Kampagnen” verschwendet […]

  3. […] der Organisation Tostan betätigt, die Unsummen an Spendengeldern verschwendet und mit ihrem falschen Ansatz kläglich scheitert: “Parents love their children and want to do the best for them.” […]

  4. […] der Organisation Tostan betätigt, die Unsummen an Spendengeldern verschwendet und mit ihrem falschen Ansatz kläglich scheitert:“Parents love their children and want to do the best for them.” schreibt […]

  5. […] Dabei ist bezeichnend, dass das Ministerium seit 1999 keine einzige entsprechende Evaluierung (d.h. Wirksamkeitsnachweis) erbracht hat, denn eines wissen wir heute sicher über diese “Strategie”: […]

  6. […] sie ihnen “beste Absichten” unterstellt – obwohl die empirischen Fakten sowohl das Eine als auch das Andere fundiert […]

  7. […] vom Himmel”, um Erfolge vorzutäuschen, die es – so behaupte ich allein wegen der verfehlten Politik des Vereins – nicht im Ansatz gibt – während die Mädchen in den Projekten weiterhin verstümmelt […]

  8. […] wie die Genitalverstümmelung aufrecht erhalten werden, sondern erklärt ebenfalls, warum die bisherigen Ansätze zu deren Überwindung scheitern und gibt den Weg vor, wie diese Gewalt schnell, wirksam und nachhaltig gestoppt werden […]

  9. […] zeigt einmal mehr, das die Forderung nach und Unterstützung von Genitalverstümmelung nichts mit “mangelnder Bildung oder Aufklärung” zu tun hat, wie immer noch zahlreiche westliche Organisationen und Politiker behaupten, sondern […]

  10. […] in Indonesien verüben Genitalverstümmelung nicht etwa aus Mangel an Bildung und Wissen – was übrigens für sämtliche Verstümmelungskulturen zutrifft – sondern sie unterwerfen ihre Töchter dieser Gewalt im vollen Bewusstsein des Leids und der […]

  11. […] es fehlt an jeglichem fundierten Beleg – wohl um für seine verfehlte, kulturrelativistische Politik der Anbiederung an die Täter und “offene Disskussion” sowie “Information … zu […]

  12. […] Die von Terre des Femmes propagierte Strategie, die Täter “aufklären” zu wollen und dann auf ein “Umdenken” zu hoffen während Mädchen schutzlos der Verstümmelung überlassen werden, gründet auf dem äußerst rassistischen Konzept der “rückständigen, unwissenden Afrikanern” und führt seit Jahren zu ergebnislosem Scheitern. […]

  13. […] über die Strafbarkeit der Verstümmelungen nach deutschem Recht informiert zu sein, bedient das zutiefst rassistische Klischee von den „dummen Tätern“, die ihre Kinder lediglich aus Unwissenheit von Recht und Gesetz verstümmeln lassen – und […]

  14. […] handeln Täter, die ihre Töchter verstümmeln lassen, keineswegs aus Unwissenheit sondern sind sowohl über die schweren Folgen für die Opfer informiert als auch über die […]

  15. […] Warum “Information und Aufklärung” im Kampf gegen Genitalverstümmelung nicht zum Ziel führt&#… Genitalverstümmelung und Trauma: Warum Opfer zu Tätern werden […]

  16. […] Stattdessen zelebriert sie den rassistischen Mythos der “unaufgeklärten aber eigentlich guten Wilden”, die man nur möglichst sensibel “ über die Rechtslage in Österreich aufklären” müsse und wirft damit die Frage auf, wann auch die letzten sogenannten “Expertinnen” endlich die Fakten würdigen, die belegen, dass die Täter i.d.R. bestens informiert und aufgeklärt sind und die Taten in vollem Bewusstsein der Fo… […]

  17. […] bei den Samburu und Maasai in Kenia – ganz systematisch und selbstverständlich und natürlich im Wissen der Folgen eine derart sadistische Gewalt gegen ihre Kinder verüben, geduldet oder sogar gefördert von den […]

  18. […] Schutz der Mächen wird diese Gewalt dauerhaft zu stoppen sein, wie wir z.B. in unserem Beitrag „Warum Information und Aufklärung im Kampf gegen Genitalverstümmelung nicht zum Ziel führt&… erörtert […]

  19. […] Warum „Information und Aufklärung“ im Kampf gegen Genitalverstümmelung nicht zum Ziel … […]

  20. […] mehr (Steuer)Gelder für „Aufklärungs- und Bildungsprojekte“ bereitzustellen, während die empirischen Fakten schon lange belegen, dass die Täter keinesfalls – wie in dieser Forderung suggeriert – […]

  21. […] jahrzehntelang komplett ignorierte und verschwieg, verfolgt sie seit den 1990er Jahren unbeirrt völlig verfehlte Strategien und gehörte zu den Vorreitern, die Verstümmelungen sprachlich zu verharmlosen, sodass sich […]

  22. […] komplett ignorierte und verschwieg, verfolgt sie seit den 1990er Jahren unbeirrt völlig verfehlte Strategien und gehörte zu den Vorreitern, die Verstümmelungen sprachlich zu verharmlosen, sodass sich […]

  23. […] Ansatz Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung wird längst von den empirischen Fakten in seiner Wirkungslosigkeit bestätigt. Er gründet zudem auf einem zutiefst rassistischen Täterbild, das die Tätergruppen […]

  24. […] Ansatz Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung wird längst von den empirischen Fakten in seiner Wirkungslosigkeit bestätigt. Er gründet zudem auf einem zutiefst rassistischen Täterbild, das die Tätergruppen […]

  25. […] Aufklärung, Aufklärung wird längst von den empirischen Fakten in seiner Wirkungslosigkeit bestätigt. Er gründet zudem auf einem zutiefst rassistischen Täterbild, das die […]

  26. […] Bildung, denn die gebildeten Eliten mit den höchsten sozialen Standards verstümmeln ihre Töchter im gleichen oder sogar größeren Ausmaß wie Vertreter der untersten und ärmsten sozialen Schichten der […]

  27. […] Mädchen zu beenden. Und zwar mit genau jenen Strategien, die sich schon in den letzten 40 Jahren als weitgehend unwirksam erwiesen haben. Dabei erfordert der wirksame Schutz der gefährdeten Kinder kaum mehr als einen konsequenten […]

  28. […] Mädchen zu beenden. Und zwar mit genau jenen Strategien, die sich schon in den letzten 40 Jahren als weitgehend unwirksam erwiesen haben. Dabei erfordert der wirksame Schutz der gefährdeten Kinder kaum mehr als einen konsequenten […]

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