Entwicklungshilfe verhindert nachhaltige Entwicklung

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Ohne Menschenrechte gibt es keine nachhaltige Entwicklung.“ Mit dieser Aussage erinnerte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) im März 2008 daran, dass die Einhaltung der Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit höchste Priorität genießen muss.

Die enorme Diskrepanz zwischen gutem Vorsatz und Realität verdeutlicht der Umgang deutscher Entwicklungshilfeorganisationen mit einer der systematischsten und gravierendsten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit: der Genitalverstümmelung an Mädchen. Schätzungsweise drei Millionen  weibliche Kinder in afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern werden jährlich dieser Gewalt unterworfen, um ihre Sexualität im Rahmen männlicher Herrschaftsansprüche zu kontrollieren. Genitalverstümmelungen finden stets in einem Gesellschaftsklima massiver Repression und Gewalt gegen weibliche Menschen statt. Sie sind als Symptom der Unterdrückung von Frauen in patriarchalischen Gesellschaften zu sehen – und tragen gleichzeitig zur Zementierung der frauenfeindlichen Ideologien und Strukturen bei.

Die Auswirkungen dieser Praktiken auf die Entwicklungsfähigkeit der jeweiligen Gesellschaften  müssen als verheerend bezeichnet werden: Mit der irreparablen körperlichen Schädigung und Verstümmelung, sowie der schweren Traumatisierung ganzer Generationen berauben sich diese Gesellschaften systematisch eines wichtigen Teil ihres Potentials, das für die gesellschaftliche Entwicklung und das Wachstum notwendig ist.

Die südafrikanische Forscherin Patricia McFadden formuliert es noch drastischer:

„Ich glaube, dass mit jedem kleinen Mädchen, dessen Körper verstümmelt wird, die menschliche Gemeinschaft, und besonders die afrikanische Gesellschaft etwas verliert, das für das Überleben unserer Spezies essentiell ist.“

Vor diesem Hintergrund erhält der Eingangssatz des BMZ eine ganz konkrete Bedeutung:

„Ohne die Beendigung der Genitalverstümmelungen gibt es keine nachhaltige Entwicklung“.

Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist ebenso einfach wie zwingend: Entwicklungshilfeorganisationen – sowohl staatliche als auch NGOs – die in Gebieten tätig sind, in denen Genitalverstümmelungen verübt werden, müssen aktiv die Beendigung dieser Praktiken fokussieren und vor allem den Schutz der Kinder in ihren Projekten sicherstellen.

Die körperliche und seelische Unversehrtheit ist nicht nur ein grundlegendes, universelles Recht, das jedem Menschen zusteht, sondern auch eine unabdingbare Voraussetzung für jegliche Entwicklung. Wenn nun Organisationen meinen, sie könnten nach ihren eigenen Präferenzen „andere Prioritäten“ setzen, begehen sie einen folgenschweren Irrtum.

Aber wie soll der Schutz aller Mädchen in den Projekten sichergestellt werden? Geht das überhaupt?

Ja – es geht! Es bedarf nicht einmal zusätzlicher Investitionen und ist damit unabhängig vom Budget und finanziellen Volumen der jeweiligen Organisationen. Das einzige, was dieses Vorhaben kostet, ist eine klare Entscheidung. Und Konsequenz. Damit ist die gewissenhafte Selektierung der Projekte/ProjektpartnerInnen gemeint: Die gezielte Steuerung der Vergabe von Geldern durch die Festschreibung der Einhaltung der Menschenrechte – somit auch den expliziten Verzicht auf Genitalverstümmelung – in den Förderungskriterien. Durch regelmäßige Überprüfung muss sichergestellt werden, dass diese Kriterien auch tatsächlich eingehalten werden.

Auf diese Weise kommen die ohnehin limitierten finanziellen und materiellen Mittel der Entwicklungshilfe ausschließlich jenen Gemeinschaften zugute, die mit der Einhaltung grundlegendster Menschenrechte die Bereitschaft zu nachhaltiger Entwicklung signalisieren.

Gemeinschaften, deren Entscheider weiterhin darauf bestehen, die Rechte ihrer Mitglieder zu missachten, die ihre weiblichen Kinder verstümmeln lassen, müssen auch die Konsequenz ihres Handelns tragen – und entsprechend auf Gelder verzichten.

Dieser konsequente Ansatz entspricht nicht nur der Priorisierung der Menschenrechte, die vom BMZ gefordert wird, ihm liegt ein Pragmatismus in Bezug auf die größtmögliche Effizienz der Investitionen zugrunde.

Vor allem aber ist dieser Ansatz sehr einfach umsetzbar.

Rakieta Poyga, Präsidentin der Organisation Bangr-Nooma in Burkina Faso, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt in Afrika gegen die Genitalverstümmelung einsetzt (im Februar 2008 in Deutschland bekannt geworden durch den Film „Maimouna – la vie devant moi“) hält das Konzept, die Vergabe von Geldern an den Schutz vor Genitalverstümmelung zu knüpfen, für „genial“ und „lebensrettend“.

Denn die Spezifik der Verstümmelungspraxis macht es möglich, die Einhaltung dieser Forderung durch gezielte Check-Ups zu überprüfen und damit ein Instrumentarium zu schaffen, das den Erfolg wirklich messbar macht.

Es könnten damit „viele Kinder vor dieser qualvollen Praktik gerettet werden“, so Rakieta.

Aber: Sämtliche deutsche Entwicklungshilfeorganisationen – vor allem jene, denen aufgrund ihres Patenkind-Systems eine ganz besondere Verantwortung für diese Kinder zukommt (z.B.: PLAN International e.V., World Vision e.V., Kindernothilfe e.V., ChildFund) sind weit davon entfernt, dieser Verantwortung gerecht zu werden:

Bis zu 400.000 Patenmädchen sind akut gefährdet, an ihren Genitalien verstümmelt zu werden. Vor den billigenden Augen jener Organisationen, die ihnen eine bessere Welt versprechen. Während die Vermarktung dieser Mädchen den Organisationen jährlich Millionen Euro einbringt, weigern sie sich hartnäckig, den Schutz vor der Verstümmelung bei ihren ProjektpartnerInnen explizit einzufordern.

Indem die Organisationen den Stopp der Genitalverstümmelungen nicht zur Grundvoraussetzung für jegliche finanzielle Investition erklären, ignorieren sie nicht nur die Verpflichtung der Entwicklungshilfe zur Förderung der Menschenrechte, sie begehen im Grunde doppelten Betrug: Betrug an den SpenderInnen, deren Herz und Portemonnaie sie dem Versprechen öffnen, den Patenkindern eine bessere Zukunft zu eröffnen. Und Betrug an den Patenkindern, deren Gesichter, Namen und Geschichten sie zur Acquise von Spendengeldern vermarkten – aber die vor vermeidbarer, lebensbedrohlicher Gewalt zu schützen sie nicht bereit sind, deren Verstümmelung sie in Kauf nehmen und dulden.

Es liegt auf der Hand, dass den Preis dieser Verlogenheit und Inkonsequenz allein die Kinder zahlen haben, mit ihrer Unversehrtheit, ihrer Gesundheit oder ihrem Leben.

Doch damit nicht genug: Die finanzielle Förderung und Unterstützung von Gemeinschaften, deren männliche Entscheider die Verstümmelung von Mädchen propagieren und fordern, festigt deren destruktive Machstrukturen und bestärkt das repressive Umfeld, in dem die Verstümmelungen erst möglich werden.

Die Möglichkeit zu wirklicher und nachhaltiger Entwicklung wird damit zusätzlich minimiert.

Ein Teufelskreis, den die Entwicklungspolitologin Melanie Feuerbach (AKIFRA e.V.) als „schleichende Katastrophe“ bezeichnet.

Wie lange noch – mag man sich fragen – werden Entwicklungshilfeorganisationen weiterhin Millionen an Spendengeldern in Projekte fließen lassen, in denen die grundsätzlichsten Menschenrechte missachtet werden und jene, in deren Interesse man zu agieren vorgibt, systematisch schwerster Gewalt unterworfen werden?

Die Antwort auf diese Frage ist kurz und präzise: Solange sie es können.

Solange die Spenden fließen, ohne dass sich die GeberInnen wirklich dafür interessieren, wie effizient ihre Mittel eingesetzt werden, solange die SpenderInnen nicht vehement von den Organisationen den Schutz der Kinder vor so schwerer Gewalt wie Genitalverstümmelung einfordern, so lange es den PatInnen egal ist, ob ihre Patenkinder verstümmelt werden oder nicht, solange nicht jede/r Einzelne die Verantwortung dafür übernimmt und konsequent handelt. Der Schlüssel zur Lösung des Problems heißt Verantwortung. Kollektive Verantwortung. Ihr gerecht zu werden, wird jetzt die Herausforderung und zugleich ein Maßstab für die Entwicklungshilfeorganisationen sein, an dem sie die Nachhaltigkeit ihrer Arbeit  messen lassen müssen.

Die Patenmädchen-Kampagne www.patenmaedchen.de eröffnet den Menschen mit den vorgefertigten Briefen ein Instrument zum Handeln, mit dem sie einfach und unkompliziert den Schutz der Mädchen einfordern können.

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