Genitalverstümmelung: Seit 16 Jahren Thema im Bundestag – und immer noch „grünes Licht“ für die Täter…

Neuer Artikel im TaskForce-Blog
26. Januar 2013
Neu im Blog: Genitalverstümmelung & Bundesärztekammer – Populismus statt wirksamer Hilfe
11. März 2013

Hamburg, den 08. März 2013.

Anlässlich des heutigen Weltfrauentages machen wir darauf aufmerksam, dass Mädchen, die in Deutschland von Genitalverstümmelung bedroht oder betroffen sind, bislang vergeblich auf die Durchsetzung ihres Rechts auf Würde und Schutz hoffen, denn Bundesregierung und Politiker geben auch weiterhin grünes Licht für die Täter:

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Ein Kommentar der TaskForce-Initiatorin Ines Laufer anlässlich der Beratung des Gesetzesentwurfes von Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Genitalverstümmelung – im Bundestag (2012):

Alle Jahre wieder nehmen sich die Parlamentarier in Berlin des Themas „Genitalverstümmelung an Mädchen“ an und debattieren Anfragen, Anträge einzelner Fraktionen oder ganz aktuell einen Entwurf zur Änderung des Strafrechts, den Bündnis 90/Die Grünen vor einem Jahr eingebracht haben. Die TaskForce hat den Inhalt dieses Gesetzes-Entwurfes bereits ausführlich kritisiert und erläutert, weshalb die geplanten Änderungen keine Verbesserung der Strafverfolgung und auch keinen Schutz für gefährdete Mädchenerreichen können. Der Antrag selbst soll deshalb heute nicht mein Thema sein.

Vielmehr blicke ich auf 15 Jahre zurück, in denen die Problematik der Genitalverstümmelung auf der Agenda der Bundesregierung behandelt wird und stelle die Frage, was sich seitdem in der Bundesrepublik hinsichtlich der Ächtung dieses Verbrechens und des Schutzes gefährdeter Mädchen getan hat.

Als „Pionierin der ersten Stunde“ habe ich 1997 als Sachverständige auf der allerersten Bundestagsanhörung über Genitalverstümmelung referiert und erinnere mich noch gut an das politische Klima damals, als es schon als Affront galt, die korrekte Terminologie „Genitalverstümmelung“ zu verwenden und das Thema nur schwer aus dem Klammergriff der Kulturrelativisten zu befreien war, die dieses Gewaltverbrechen als „identitätsstiftendes Initiationsritual“ feierten und sofort „Kulturimperialismus“ schrien, wenn westliche Kritiker allein die Klassifizierung „Menschenrechtsverletzung“ vornahmen…

Heute ist im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft – einschließlich unserer Politiker – die Wahrnehmung von Genitalverstümmelung als schwere Menschenrechtsverletzung, die nicht hinnehmbar ist und durch nichts zu rechtfertigen ist, sicher verankert. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass dieser Bewusstseinswandel bislang keinerlei nennenswerte Auswirkung auf die Lebenssituation potentieller Opfer in unserem Land hat oder auf den Umgang mit Tätern, die ihre Töchter der Verstümmelung unterwerfen. Im Gegenteil:

Regierung und Parlamentarier sind seit 15 Jahren nicht bereit, gefährdete Mädchen in Deutschland zu schützen und die Strafverfolgung der Täter zu ermöglichen – obwohl beides die Aufgabe des Staates ist.

Die Bundestags-Debatten zu Genitalverstümmelungen drehen sich seit Jahren im Kreis und bleiben – außer regelmäßigen Déjà-Vu-Erlebnissen – ohne Ergebnis, wie ein Vergleich der Debatte im letzten Februar mit der Parlamentssitzung vor 6 Jahren – am 01. Februar 2007 – verdeutlicht.

Einerseits überbieten sich die Politiker mit Wertungen, z.B. „Die genitale Verstümmelung stellt einen besonders drastischen menschenrechtswidrigen Auswuchs von Gewalt gegen Frauen dar.“ (Sibylle Laurischk/FDP – 2007), „diese Art der Verstümmelung ist durch nichts zu rechtfertigen, weder durch kulturelle noch durch religiöse Gründe.“ (Michaela Noll/CDU,CSU – 2007), „weibliche Genitalverstümmelung ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen…“ (Monika Lazar/Bündnis 90/Die Grünen – 2012), „weibliche Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung geben darf“ (Dr. Kirsten Tackmann/Die Linke – 2007) oder „Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, eine schwere Verletzung von Grundrechten“ (Ute Granold/CDU, CSU – 2012) – andererseits bagatellisieren sie die Problematik und spielen das Ausmaß der Verstümmelungen in Deutschland herunter:

Deutsche Politiker aller Fraktionen spielen seit Jahren wissentlich die Dimension von Genitalverstümmelungen in Deutschland herunter

Seit Februar 2007 weist die TaskForce den Bundestag und insbesondere die zuständigen Berichterstatterinnen aller Fraktionen regelmäßig darauf hin, dass die vermutete Zahl von „4.000 bis 5.000 gefährdeten Mädchen in Deutschland“ weit unter der tatsächlichen Anzahl von 30.000 bis 50.000 gefährdeten minderjährigen Mädchen liegt und belegt dies mit fundierten Fakten.

Die Politiker ignorieren diese Informationen und behaupten auch immer noch, in Deutschland seien „nur“ 5.000 Mädchen bedroht (Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen) und „Eine Gefährdungslage besteht für etwa 5 000 Frauen und Mädchen.“ (Ute Granold, CDU/CSU) oder „Wir reden…darüber, dass … dass 5 000 Mädchen, die hier leben, gefährdet sind.“ (Karin Roth, SPD).

Es scheint mittlerweile politisches Kalkül zu sein, so zu tun als seien Genitalverstümmelungen in Deutschland und die potentiellen Opfer rein zahlenmäßig ein Randthema, dem keine besondere Dringlichkeit beizumessen sei.

In der Tat haben die Opfer – d.h. minderjährige Mädchen mit Migrationshintergrund – keine Lobby, im Gegensatz zu den Tätern, deren Vertreter sich nicht nur an „Runden Tischen“ für einen „verständnisvollen“ Umgang mit dem Verbrechen und seinen Tätern einsetzen, sondern auch durch NGOs und Aktivisten bestärkt werden.

So ist denn die Botschaft der deutschen Politiker an die Täter unmissverständlich:

„Der Bundestag wird auch weiterhin zulassen, dass Mädchen während der Ferien zur Verstümmelung ins Ausland verbracht werden“…

Im Gegensatz zur Situation vor 15 Jahren haben wir  heute ein sehr klares Bild der Art und Weise, wie die Täter in Europa Genitalverstümmelungen verüben: Wir wissen, dass bis zu 80% der in Europa/Deutschland lebenden Mädchen aus den Hochrisikogruppen der Verstümmelung unterworfen werden – überwiegend während sogenannter „Ferienreisen“.

Auch bei den Politikern sind diese Informationen angekommen: „Die Mädchen werden zum Zweck der Verstümmelung häufig ins Ausland gebracht.“ (Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen – 2007), „Für uns ist die Tatsache sehr wichtig, dass viele Genitalverstümmelungen in der Ferienzeit vorgenommen werden. Die Mädchen werden ins Ausland, zum Beispiel nach Afrika, verbracht, um dort die … Genitalverstümmelungen vornehmen zu lassen“ (Ute Granold, CDU/CSU – 2012), „Wir alle wissen, dass Mädchen bei Aufenthalten im Ausland, im Heimatland, einem deutlich höherenRisiko der Verstümmelung ausgesetzt sind.“ (Sonja Steffen, SPD – 2012).

Doch obwohl seit mehr als acht Jahren (!) die Rechtssprechung deutscher Familiengerichte sowie der Bundesgerichtshof einschlägig geklärt haben, dass die Verstümmelung im Ausland durch die Einschränkung des Aufenthaltsbestimmungsrechts wirksam verhindert werden kann – und es die Pflicht des Staates ist, die Rechte dieser spezifisch gefährdeten Mädchen zu schützen, wollen die Parlamentarier auch weiterhin zulassen, dass Eltern ihre Töchter ungehindert für die Verstümmelung ins Ausland bringen können – anstatt zu beraten, wie diese wirksame familienrechtliche Maßnahme für alle bedrohten Mädchen umgesetzt werden kann: Sie wollen lediglich im Nachhinein – d.h., wenn es für die Opfer zu spät ist und sie irreparabel geschädigt und traumatisiert wurden – eine fragwürdige, praktisch kaum umsetzbare – und deshalb wirkungslose – Strafbarkeit der „Auslandsstraftat“ schaffen und zementieren auf diese Weise die doppelte Diskriminierung, die wir schon 2008 beschrieben haben.

Ärzte sollen weiterhin schweigen dürfen/müssen, wenn sie genitalverstümmelte Kinder identifizieren

In unseren Analysen haben wir immer wieder darauf hingewiesen, dass die rechtliche Rahmenbedingung der ärztlichen Schweigepflicht zu einem staatlichen Täterschutz für Verstümmelungstäter führt. Wir haben die Politiker folgerichtig aufgefordert, dieses Dilemma durch die Schaffung einer entsprechenden Meldepflicht aufzuheben.

Doch seit fünf Jahren boykottieren insbesondere die CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke jegliche politische Bestrebung, diese Maßnahme auch nur ernsthaft zu diskutieren:

2007 war es die FDP, die immerhin die Prüfung einer „Meldepflicht von ÄrztInnen und Ärzten, die von einer drohenden Genitalverstümmelung erfahren, an das Jugendamt oder die Polizei“ angeregt hatte, war jedoch selbst nicht couragiert genug, die Frage zu beantworten, ob dies „Genitalverstümmelungen verhindern … oder eher kontraproduktive Auswirkungen auf  die Betroffenen haben kann“ .

Fünf Jahre lang ignorierten die Parlamentarier diesen wichtigen Aspekt völlig!

2012 ist es einzig die SPD, die dieses Schlüssel-Thema erneut anspricht:  „Zu prüfen wäre übrigens noch, ob wir eine Meldepflicht für Ärzte bei Gefährdungen oder offensichtlichdurchgeführten Genitalbeschneidungen einführen sollten.“ (Sonja Steffen, SPD – 2012) und „In unserem Land gibt es noch keine einzige Anzeige. Da muss man sich doch fragen, warum es keine gibt. …Ich weiß, dass es sogenannte Leitlinien für Ärzte, zum Beispiel Frauenärzte und Kinderärzte, gibt, diesen Tatbestand zu melden. Es passiert aber nicht. Deshalb ist die Anregung meiner Kollegin Sonja Steffen, eine Meldepflicht einzuführen, nicht falsch“ (Karin Roth, SPD, 2012)

Fazit:

„Die Parlamentarier sind nicht bereit, umfassende Schutzmaßnahmen vor Genitalverstümmelung für Mädchen, die in Deutschland leben,  zu diskutieren“

Diese Aussage musste ich mir im Juli 2007 vom Bundestagsbüro der damaligen frauenpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen – Irmingard Schewe-Gerigk, die heute bei Terre des Femmes eine fragwürdige Täterschutz-Politik repräsentiert – anhören.

Sie bezog sich auf die umfassenden, wirksamen und messbaren Präventionsmaßnahmen, welche die TaskForce zum Schutz der Mädchen in Deutschland erarbeitet und den Parlamentariern im Februar 2007 vorgelegt hatte.

Auch heute – fünf Jahre später – ist der politische Wille, gefährdete Mädchen zu schützen und Täter zu bestrafen,  nicht erkennbar!

Die Kritik, die schon damals die TaskForce und andere Kinderrechtsorganisationen veröffentlichten, ist heute immer noch so aktuell, dass ich das Resumée daraus abgewandelt zitiere:

Der Umgang der deutschen Politiker mit dem Thema „Genitalverstümmelung“ beschreibt ein bedrückendes Bild von der Halbherzigkeit, Naivität und Ignoranz, mit der sie seit nunmehr 15 Jahren damit umgehen.

In dieser Zeit haben sie nichts anderes vermocht, als eine immer größere Diskrepanz zwischen ihren Lippenbekenntnissen à la „das ist eine schwere Gewalt und Menschenrechtsverletzung und der eigenen, praktizierten Duldungspolitik zu schaffen, während tausende Mädchen vor unserer Haustür Opfer der Verstümmelungen werden und dieTäterInnen staatlichen Schutz genießen.

Dr. Karl Addicks von der FDP fand 2007 klare Worte und ermahnte den Bundestag im Hinblick auf die Verstümmelungen in Deutschland: „Wir wollen diesem Treiben…nicht länger zusehen. Sonst machen wir uns schuldig anden Mädchen und jungen Frauen, denen diese Gewalt angetan wird.“

Doch immer noch „reden“ Parlamentarier und Bundesregierung ohne zu handeln – während sie sich durch die Unterlassung von Hilfe eine Kollektivschuld für jedes einzelne verstümmelte Mädchen in unserem Land aufgeladen haben.

Die Zeit ist überreif, endlich etwas zu tun, den Worten Taten folgen zu lassen und sich für die Maßnahmen einzusetzen, die umfassenden und messbaren Schutz für alle gefährdeten Mädchen garantieren können…

 

Foto: (c) iStock

11 Comments

  1. […] dem Staat für diese Kinder eine Schutzpflicht obliegt, haben Regierung und Parlamentarier keinerlei umfassenden und wirksamen Schutzmaßnahmen für alle gefährdeten Mädchen […]

  2. […] bis zu 80% der gefährdeten Mädchen – verübt werden und dass wir allein in Deutschland auf 15 Jahre aktive Duldungspolitik durch Parlamentarier und Regierung zurückblicken […]

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